von Kathrin Ebenhoch
25. April 2024
Vom Voltigieren im Reitclub Seefeld
Akrobatik hoch zu Ross
Drei junge Frauen turnen auf einem Pferd, formen schwerelos Figuren. Alles im vollen Galopp. Was wie eine halsbrecherische Zirkuseinlage klingt, ist der normale Alltag der Voltigiergruppe des Reitclubs Seefeld. 59 Sportler:innen zwischen 5 und 23 Jahren trainieren mehrmals pro Woche in der Reithalle an der Leutascherstraße. Zwei- bis dreimal im Jahr finden hier regionale und nationale Turniere statt. International gehört die Topgruppe S der Seefelder Voltigierer:innen zu den Besten: 2019 gewannen sie als Gruppe Silber bei den Juniorenweltmeisterschaften in Ermelo (Niederlande), 2022 gab es bei den Weltmeisterschaften im dänischen Herning Bronze im Team.
Dieser Blog entstand in Zusammenarbeit mit Chris Weitenhiller. Chris lieferte die Idee für den Blog, das Grundgerüst des Textes und die Bilder.
Ein bisschen Geschichte
Voltigiert wird bereits seit der Antike: Ursprünglich als militärische Ausbildungsmethode für Pferde und Reiter entwickelt, wurden schon bei den Römern die akrobatischen Übungen auf dem galoppierenden Pferd einem größeren Publikum präsentiert. 1920, bei den Spielen in Antwerpen war Voltigieren, damals unter dem Namen Kunstreiten, sogar eine olympische Disziplin. Diese Ehre wird der anspruchsvollen Sportart, die Elemente aus dem Reit- und Turnsport verbindet, heute leider nicht mehr zuteil. Dennoch ist sie seit den 1980iger Jahren vom internationalen Reitsportverband FEI als offizielle Wettkampfsportart anerkannt. 1984 fanden in Ebreichsdorf (nahe Wien) die ersten Europameisterschaften statt, 1986 in Bern (Schweiz) die ersten Weltmeisterschaften. Die Voltigiergruppe Seefeld wurde 1984 gegründet, erste internationale Starts folgten bald. Florian Haidegger vertrat Seefeld zwischen 2009 und 2011 im Einzel auch auf den großen Championaten. Seit 2015 ist die Topgruppe sowie einige Einzelathlet:innen fester Bestandteil des österreichischen A-Kaders.
Training, Training, Training
Um erfolgreich Handstände, Hebefiguren, Sprünge und andere akrobatischen Elemente auf einem galoppieren Pferd durchführen zu können, braucht es eine Menge Training. Die jüngsten Voltis trainieren rund drei Stunden pro Woche, die Topathlet:innen zumindest 15 Stunden. Denn der Voltigiersport vereint einige Herausforderungen miteinander: Kraft, Koordination, turnerisches Können und Gleichgewicht sind Grundvoraussetzungen. Die Verbindung zwischen Mensch und Pferd muss nicht nur bei den Athleti:innen stimmen, auch die Longenführer:innen* müssen ihr Pferd und seine Reaktionen genau kennen. Da vor allem die Kürübungen stets auf Musik choreografiert sind, braucht es ferner Takt- und Rhythmusgefühl sowie tänzerische Ausdruckfähigkeit. Und nicht zu vergessen, da oft die Versicherung gegen Verletzungen und ungewollte Abgänge vom Pferd, bedingungslosen Teamgeist.
Teamgeist und Tierliebe
Schon der Nachwuchs ab fünf Jahren lernt, dass sich Volti-Mädels und -Burschen blind aufeinander verlassen können und vertrauen müssen. Nur so schafft man es später im Bereich der Topgruppe Hebefiguren mit drei Sportler:innen auf dem Pferd zu halten und spielend einfach aussehen zu lassen. Der Zusammenhalt ist groß, die Liebe zum Pferd ebenso. Martina Seyrling, die Leiterin der Voltigiergruppe im RC Seefeld und Trainerin der Topgruppe formuliert es so: „Wer sein Herz an den Voltigiersport verliert, bleibt meist ein Leben lang damit verbunden.“ Mit verantwortlich dafür der tierische Teil des Teams. „Unsere Pferde und ihr Wohl stehen an erster Stelle, sie sind wie Familienmitglieder.“ So war 2023 der plötzliche Tod des besten Pferdes im Stall, Don Rudi, ein harter Schlag, der den gesamten Verein aus dem Alltag riss. Selbst die jüngsten Clubmitglieder, die Rudi „nur“ aus dem Stall kannten, vergossen Tränen vor seiner leeren Box.
Einen Nachfolger zu finden war in vielerlei Hinsicht nicht einfach. Zunächst gibt es nicht viele ausgebildete Voltigierpferde auf dem Markt, denn ihre Ausbildung allein dauert drei bis fünf Jahre. Bis sich ein Pferd an die Bewegungen und das Gewicht der Voltigierenden gewöhnt hat und sich sicher und wohl dabei fühlt, braucht es viel Geduld. Außerdem sind diese speziell ausgebildeten Pferde alles andere als günstig. Ihr finanzieller Wert beginnt bei 50.000 € aufwärts. Und schließlich muss die Chemie zwischen Tier und Team stimmen. Mit dem Hannoveraner Wallach Fürst D wurden Seyrling und ihre Mannschaft zwar in Kiel fündig, die Saison 2023 war allerdings schon passé. Und auch 2024 startet man aus Rücksicht auf das Tier nicht in allen Klassen. Mit einem Stockmaß von 1.89 Meter ist der 13-Jährige zudem besonders groß und stellt die Mannschaft immer wieder vor neue Herausforderungen. „Der Aufgang** ist dabei das geringste Thema“, meint Lena Bachbauer, eine der Topathletinnen, schmunzelnd. „Viel schwieriger ist sein langsamerer Galopp-Rhythmus, an den wir uns im vergangenen Jahr erst einmal gewöhnen mussten.“
Kein Platz für Prinzessinnen
Wie beginnt man nun mit diesem Sport? In viele Vereinen startet der Nachwuchs in der Turnhalle mit klassischem Turntraining. In Seefeld geht es gleich in Stall und Reithalle. Damit lernen alle sofort, dass es hier um mehr geht als beim Turnsport. Da wäre zunächst die Pflege der Pferde, ganz nebenbei ein essenzielles Element in der Tier-Mensch Beziehung: Bürsten, Striegeln, Hufe auskratzen und wenn nötig auch mal Ausmisten – das gehört dazu, auch wenn die Kleinsten den mächtigen Tieren gerade mal bis zum Bauch reichen. Dass manche Schulfreunde beim Thema Stallarbeit die Nase rümpfen, lässt den Nachwuchs kalt: „Die verstehen das halt nicht“, meint eine kleine Voltigiererin und klopft sich den Staub von der Hose. In der VG Seefeld gibt es trotz glitzernder Dressen, graziler Hochsteckfrisuren und Makeup bei den Turnieren keine Prinzen und Prinzessinnen. Gummistiefel und Pferdeduft gehören wie Leggings und Turnpatschen zur Grundausstattung.
Ist das Pferd bereit, geht’s ans Aufzäumen. Statt einem Sattel kommt die Voltigier-Ausrüstung zum Einsatz. Basis ist das Pad, eine gepolsterte Decke, die den Rücken bedeckt. Darauf kommt in der Nähe das Halses, ein dicker Schaumstoffstreifen, auf dem der Voltigiergurt festgezurrt wird. Er verfügt über mit zwei feste Griffe und zwei Fußschlaufen, an denen sich die Athlet:innen bei ihren Bewegungen festhalten oder einhaken können. Das Zaumzeug ähnelt dem beim Reiten. Während der:die Longenführer:in nun das Pferd aufwärmt, geht es für die Sportler:innen ebenfalls in die Reithalle. Aufwärm-, Dehn- und Kräftigungsübungen werden Sommer wie Winter auf dünnen Matten oder direkt auf dem sandigen Hallenboden durchgeführt; ebenso die Turnabfolgen sowie neue Choregrafie-Elemente. Ein bisschen Staub in den Haaren gehört dazu. Danach geht es aufs sogenannte Holzpferd, eine mit gepolstertem Stoff ummantelte Tonne auf vier Beinen. Hier werden alle Übungen erst einmal in Ruhe trainiert, ehe es schlussendlich aufs bewegte Pferd geht.
Beim Voltigieren gibt es eine Vielzahl von Figuren und Bewegungen, die erlernt und zu komplexen Choreographien kombiniert werden können. Als Anfänger beginnt man mit den Grundlagen: Die Pflichtelemente Grundsitz***, Waage**** und Mühle***** sind die ersten Übungen, die man zunächst auf dem Holzpferd und anschließend im Schritt auf dem echten Pferd macht. Ist man hier sicher, folgen erste Variationen: die Fahne ******, freihändiges Knien oder Stehen, Schulter- oder Handstände. In den frei gestaltbaren Küren gibt es selbst bei den Jüngsten schon erste Hebefiguren; das Pferd geht dabei im Schritt. In den höheren Klassen galoppiert es. Mit zunehmender Erfahrung nehmen die Voltigierer:innen auch komplexere Figuren wie Drehungen und Sprünge in ihre Choreografien auf. Obwohl es dabei im Training des Öfteren zu ungewollten Abgängen kommt, ist der Verletzungsrisiko nicht höher als in anderen Sportarten. Zum einen wird der Nachwuchs langsam herangeführt, zum anderen entwickeln alle mit der Zeit eine Routine, wie man auch im Notfall noch relativ sicher abgeht. Und wie oben erwähnt, in der Gruppe achtet jeder auf jeden, damit möglichst niemandem etwas passiert.
100% Ehrenamt – 100% Weltklasse
Neben diesem wirklich beeindruckenden Teamgeist, ist noch etwas im Voltigiersport bewundernswert: Alle Trainer:innen des RC Seefeld arbeiten zu Hundertprozent ehrenamtlich, und das bis zu 15 Stunden pro Woche; in den Vorbereitungsphasen vor EM und WM auch deutlich mehr. Hinzu kommt die Zeit, die die Pferdepflege in Anspruch nimmt. Dazu gehört neben Striegeln, Füttern und Ausmisten auch das zwei- bis dreistündige Ausgleichtraining, das an fünf Tagen pro Woche zu absolvieren ist. Denn voltigiert wird auf jedem Pferd nur zweimal pro Woche. Diese Tätigkeiten übernehmen Trainer:innen, Sportler:innen und begeisterte Externe. Bezahlt werden kann dafür nichts. Denn die Kosten des Vereins – rund gerechnet 70.000 € für Einstellgebühren, Tierarzt,
Hufschmied, Futter, Chiro- und Physiotherapie aller Pferde plus 4.000 € bis 6.000 € pro Pferd an Ausrüstung – finanziert der Verein selbst, aus Mitgliedsbeiträgen, kleineren Sponsoren und dem Essensverkauf bei den Turnieren.
Bei einem solchen dabei zu sein, ist ein besonderes Erlebnis. Natürlich sollte man Staub und Pferde aus nächster Nähe nicht scheuen, denn das Publikum sitzt mitten in der Reithalle, direkt beim Geschehen. Doch dank der Top-Gruppe aus Seefeld, die zu Saisonbeginn in Portogruaro (Italien) bereits ihr erstes internationales Turnier gewann, sowie zwei mit WM-Medaillen dekorierten Sportlerinnen aus der Voltigiergruppe Pill, Eva Nagiller und Clara Luwiczek, wird Voltigiersport auf Weltklasse-Niveau geboten.
Die Region Seefeld – Tirols Hochplateau ist stolz darauf einer der Sponsoren dieser hochwertigen Sportwettkämpfe zu sein. Der nächste Bewerb, das Finale des Voltigiercup West mit Starter:innen aus Tirol und Vorarlberg in den Klassen N (Nachwuchs) bis S (Spitzensport), findet kommendes Wochenende, am Samstag, 25. Mai, und am Sonntag, 26. Mai in der Reithalle Seefeld statt. Der Eintritt ist frei. Für Speis und Trank ist bestens gesorgt.
* der:die Longenführer:in hält das Pferd an einer langen Longe und „führt“ es aus der Mitte in der passenden Gangart im Kreis
** beim Aufgang laufen die Voltigier:innen aus der Mitte ans galoppierende Pferd, gehen vier Galoppsprünge im Takt mit und Springen dann mit gestreckten Beinen in einer möglichst nahe am Handstand liegenden Position auf
*** aufrechter, freihändiger Sitz mit seitlich ausgestreckten Armen
**** Vierfüßlerstand mit einem nach hinten ausgestreckten Bein
***** 360° Drehung im Sitzen und in vier Phasen; eine Hand ist stets am Voltigiergurt. Vorwärtssitz, rechtes Bein wird gestreckt über den Pferdehals geführt, Seitsitz, linkes Bein wird gestreckt über die Pferdekruppe geführt, Rückwärtssitz, rechtes Bein wird gestreckt über die Pferdekruppe geführt, Seitsitz, linkes Bein wird gestreckt über den Pferdehals geführt, Vorwärtssitz.
****** Vierfüßlerstand mit einem ausgestreckten Bein und einem gegengleich ausgestreckten Arm
Infobox RC Seefeld
Gründung | Reitclub (RC) 1971, Voltigiergruppe (VG) 1984 |
Sparten | aktuell nur die Sparte Voltigieren |
Leitung VG | Martina Seyrling |
Pferde | 10 Voltigierpferde (3 in Vereinsbesitz, 7 in Privatbesitz) |
Ausbildung Pferd | 3 bis 5 Jahre |
Fürst D - Pferd der Topgruppe S | Geboren am 11.4.2011; Hannoveraner Wallach; Größe (Stockmaß) 1,89m; 08.2016 Ausbildungsbeginn bei Caro und Adda Boe in Kiel (Deutschland); seit Frühjahr 2023 in Seefeld |
Aktive | 59 aktive Sportler:innen zwischen 5 und 23 Jahren in 6 Gruppen; S (Spitzensport allgemeine Klasse): 7; S Junior: 7; Mittel: -; Leicht: 9; Anfänger: 10; Nachwuchs: 26; 10 aktive Trainerinnen plus 3 Hilfstrainerinnen (alle im Ehrenamt) |
Erfolge | 2019 Junioren-WM Ermelo (Holland) – Silber (Gruppe); 2022 WM Herning (Dänemark) – Bronze (Team gesamt, Gruppe aus Seefeld); 2016,2017, 2018, 2019, 2021 und 2022: Teilnahme an EM und WM im Einzel und/oder Team |
Aushängeschilder | Claudia und Clemens Ernstreiter – für ihr unermüdliches Engagement im Verein; Florian Haidegger – Starter bei Championaten 2009 bis 2011; S-Gruppe: Lena und Nina Bachbauer, Rebecca Frießer, Georg Gabl, Sarah Gollubics, Sophie Pittl, Sophia Wackerle |
Turniere 2024 | 13./14.04. – 1. Voltigiercup West (Tirol und Vorarlberg) in Dornbirn; 27./28.04. – 2. Voltigiercup West in Seefeld; 09. bis 12.05 - CVIO-Turnier Stadl Paura - 1. Qualifikation zur WM; 25./26.05. – Finale VoltigiercupWest in Seefeld; 07. bis 09.06. – Bundesländermannschaftsmeisterschaft in Niederösterreich - 2. Qualifikation zur WM; 15. bis 21.07. – EM und WM in Bern/Schweiz; 15.09. – Tiroler Meisterschaften in Pill; 27. bis 29.09. – Staatsmeisterschaften in Seefeld |
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